Sechstes Kapitel.
Von zufälligen Bestimmungen der Materie.
Allmählicher Übergang ins Gebiet der bloßen Erfahrung

[337] Es wird als erwiesen vorausgesetzt, daß wir genötigt sind, Anziehungs- und Zurückstoßungskraft als Bedingungen unsrer Anschauung zu denken, die eben deswegen aller Anschauung [337] vorangehen müssen. Eine Folge davon ist, daß ihnen in bezug auf unsere Erkenntnis absolute Notwendigkeit zukommt Notwendigkeit aber fühlt der Geist nur im Gegensatz gegen Zufälligkeit, er fühlt sich gezwungen, nur insofern er sich in anderer Rücksicht frei fühlt. Also muß jede Vorstellung Notwendiges und Zufälliges in sich vereinigen.

Vorerst ist klar, daß attraktive und repulsive Kräfte nur überhaupt eine begrenzte Sphäre geben. In der Anschauung nun ist die Grenze bestimmt, und daß sie so und nicht anders bestimmt ist, erscheint uns als zufällig, weil diese Bestimmung nicht mehr zu den Bedingungen der Anschauung überhaupt gehört. Nichtsdestoweniger ist das Objekt und seine Bestimmung in der Anschauung nie getrennt; Reflexion allein vermag zu trennen, was die Wirklichkeit immer vereinigt. Also ist klar, daß in der ersten Anschauung schon, damit unser Geist das Notwendige unterscheide, Notwendiges und Zufälliges innigst vereinigt sind. –

Zufällig also ist und nur erfahrungsmäßig erkennbar die bestimmte Grenze, die Größe des Objekts (seine Quantität). Diese aber, nachdem sie erkannt ist, auch messen zu können, bedarf es anderer Objekte. Aus vielfältigen Vergleichungen zusammengenommen bildet sich erst die Einbildungskraft ein Mittleres von Größe, als Maß aller Größe.

Die Ursache nun, durch welche die Materie auf eine bestimmte Grenze beschränkt wird, heißen wir Zusammenhang (Kohäsion), und weil die Kraft des Zusammenhangs verschiedener Grade fähig ist, so macht dies eine spezifische Verschiedenheit der Materie aus.

Inwiefern nun die Größe eines Körpers, d.h. die Sphäre der Kohäsion seiner Teile, ferner der Grad von Kraft, mit welchem diese Teile zusammenhangen, als zufällig erscheint, so wäre es ein eitles Verlangen, über Kohäsion oder über spezifische Verschiedenheit der Materie etwas a priori auszumachen. Besser ist, man unterscheidet sogleich die verschiedenen Arten von Kohäsion. Man muß also unterscheiden die ursprüngliche Kohäsion und die abgeleitete.

Wie nun Kohäsion ursprünglich möglich sei, läßt sich[338] nicht beantworten, solange man Materie als etwas unabhängig von allen unsern Vorstellungen Vorhandenes voraussetzt. Denn aus dem Begriff der Materie läßt sich Kohäsionskraft nicht analytisch ableiten. Also glaubt man sich genötigt, eine physische Erklärung zu versuchen, d.h. in der Tat alle Kohäsion bloß als scheinbar anzunehmen. Denn wenn wir den Zusammenhang der Körper aus dem Druck, den der Äther oder irgend ein sekundäres Fluidum auf sie ausübt, erklären, so gilt auch jener Ausdruck nur von dem Schein unsrer Vorstellung, objektiv gebraucht wird er Täuschung. Da aber Kohäsion von der kleinsten wie von der größten Masse gilt, so müßte man, wofern sie bloß scheinbar wäre, die Materie zuletzt aus Körperchen bestehen lassen, für deren Kohäsion man weiter keinen Grund anführen könnte.

Auch steht der Grad der Kohäsion in gar keinem Verhältnis mit den Flächen der Körper, wie es doch sein müßte, wenn sie mechanisch durch Druck oder Stoß irgend eines Fluidums bewirkt würde. Man müßte denn zu einer neuen Fiktion seine Zuflucht nehmen, zu einer ursprünglichen, unveränderlichen Verschiedenheit der Figur der ersten Körperteilchen, wodurch eine verschiedene, der Oberfläche der Körper nicht proportionale Wirkung des Stoßes begreiflich würde. Zu diesem Behuf aber müßte man sich abermals eine Materie von ganz besonderer Art denken, die, wie Herr Hofrat Kästner sagt, durch alle Körper durchginge und zugleich überall anstieße.

Hier äußert sich nun ein Bestreben, etwas zu erklären, was weder Philosophie noch Naturlehre zu erklären vermag. Denn wir können uns einmal keine Materie überhaupt, sondern nur eine Materie innerhalb bestimmter Grenzen und von bestimmtem Grad des Zusammenhanges ihrer Teile vorstellen. Diese Bestimmungen nun sind und müssen uns zufällig sein. Sie lassen sich also auch nicht a priori erweisen. Gleichwohl gehören sie so sehr zur Möglichkeit einer bestimmten Vorstellung von Materie (sie sind, wie schon oben bemerkt wurde, die partes integrantes der Vorstellung, die Notwendiges und Zufälliges in sich vereinigen muß), daß es ebenso unmöglich ist, eine physische Erklärung davon zu geben; denn jede physische[339] Erklärung setzt sie schon voraus, wie das aus dem oben angeführten Versuch der mechanischen Physik hervorleuchtet, die zuletzt doch Körperchen annehmen muß, deren Kohäsion zu erklären sie nicht imstande ist. In Ansehung der ursprünglichen Kohäsion also sind wir, wie es scheint, genötigt, in der Naturlehre beim bloßen Ausdruck des Phänomens stehen zu bleiben135.

Die abgeleitete Kohäsion heiße ich diejenige, die nicht zur Möglichkeit einer Materie überhaupt gehört.

Diese kann man nun zur Berichtigung der gemeinen Vorstellungen einteilen in die dynamische, die mechanische, die chemische und organische Kohäsion.

Denn was die erste betrifft, so ist sie bloß scheinbare Kohäsion. Daß sie in der Berührung wirkt, reicht noch nicht hin, sie als Kohäsion zu betrachten. Denn da sie nur in der gemeinschaftlichen Grenze zweier Räume wirkt, so kann man diese Grenze auch als einen, zwar unendlich-kleinen, jedoch leeren Raum vorstellen. Hier ist also Anziehung, d.h. eine Wirkung in die Ferne (actio in distans); diese Anziehung aber, als Kohäsion vorgestellt, ist bloß scheinbar. Kohäsion, wenn sie nicht bloß scheinbar sein soll, darf nicht als zwischen verschiedenen Körpern wirkend gedacht werden. Denn sie ist eben dasjenige, was den Körper zum Körper (zum Individuum) macht. Und deswegen ist nur chemische, aber noch weit mehr organische Kohäsion – Kohäsion im eigentlichen Sinne des Worts.

Denn auch die mechanische Kohäsion kann nur sehr uneigentlich Kohäsion heißen; besser, Adhäsion. Denn der Zusammenhang ist hier eine bloße Folge der Figur der Körperteilchen und beruht ganz allein auf der wechselseitigen Reibung. Indes gibt es wohl wenige bloß mechanische Adhäsionen, die den Schein einer Kohäsion geben. Gewöhnlich wirkt noch chemische Kohäsion zum Teil wenigstens mit. Man erlaube mir, das Wort chemisch hier in der weitesten Bedeutung zu[340] gebrauchen, von jedem Erfolg, der mit dem Übergang eines Körpers aus einem Zustand in den an dern verbunden ist. Bei den gewöhnlichen regellosen Anhäufungen der Materie nun, die sich im Lauf der Jahrhunderte zu Klipp' und Felsen verhärten, wirkt, um nur Eines zu nennen, vorzüglich Wasser mit, das, z.B. mit Kalk verbunden, seinen Zustand ändert (daher wenigstens die Festigkeit unsers Mörtels, unserer Kütte usw.).

Die durch chemische Mittel bewirkte Kohäsion findet überall statt, wo aus zwei Körpern von verschiedener Masse und verschiedenen Graden der Elastizität ein dritter als gemeinschaftliches Produkt entsteht. Diese Kohäsion unterscheidet sich von der bloß dynamischen oder mechanischen dadurch, daß (bei einem vollkommenen chemischen Prozeß) eine wechselseitige Durchdringung vorgeht. Oder die Kohäsion ist wenigstens die Folge des Übergangs eines Körpers aus einem Zustand in den andern, wie aus dem flüssigen in den festen. Da das Feuer auf Körper ganz gleichförmig wirkt, so erhalten sie, wenn die Abkühlung gleichförmig ist (denn sonst geschieht das Gegenteil, wie bei den Springgläsern, den Bologneserflaschen usw.), einen durchaus gleichen Grad von Elastizität, woraus sich erklären läßt, daß solche Körper gebrochen bei weitem nicht mehr den Grad von Anziehung zeigen, den sie von ihrer Erstarrung nach dem Flusse her hatten136, auch daß gerade Körper, die mit der größten Kraft zusammenhangen, sehr oft die sprödesten sind, weil ihr Zusammenhang, wenn er nur verändert werden soll, sofort aufgehoben wird.

Daraus erklärt sich auch der große Zusammenhang der Teilchen flüssiger Körper. Denn da jede Flüssigkeit, soviel wir wissen, chemisch gebildet wird, so erhält sie dadurch einen völlig gleichförmigen Grad von Elastizität, der Zusammenhang ihrer Teile ist kontinuierlich, und dies scheint bei jeder ursprünglichen Kohäsion der Fall zu sein, da hingegen, wo die Kohäsion durch mechanische Anhäufung entsteht, der Zusammenhang der Körperteilchen mehr oder weniger unterbrochen ist. Im letzteren Falle kann man die Figur der Körperteilchen[341] bestimmen; bei flüssigen Körpern wenigstens ist es unmöglich, denn der Körper ist Eine Masse. Je mehr er sich dieser Kontinuität annähert, desto flüssiger ist er.

Von der organischen Kohäsion kann hier noch nicht die Rede sein.

Noch gehören hierher Fragen über die verschiedene Gestalt der Körper. Ich wünschte aber, diese Materie in ihrem ganzen Zusammenhange – da, wo von der Form organisierter Körper die Rede sein wird – vorzutragen.

Was die spezifische Verschiedenheit der Materie anbelangt, – davon späterhin. Jetzt nur die Bemerkung: daß, da attraktive und repulsive Kraft ursprünglich voneinander unabhängig sind, jede Veränderung des Grads der einen aber unausbleiblich mit einem veränderten Verhältnisse der andern verbunden ist, unendlich viele Verhältnisse dieser Grundkräfte möglich sind. Die beiden äußersten Extreme von Körpern aber sind – flüssige und feste. Es fragt sich, was der (mathematische) Begriff von flüssigen Körpern sei. Man kann sie als solche erklären, deren Teile untereinander der vollkommensten Berührung fähig sind, oder, was dasselbe ist, wovon kein Teil vom andern durch Figur sich unterscheidet.

Man könnte einwenden, daß auch bei festen Körpern eine vollkommene Berührung wenigstens denkbar sei. Ich leugne dies nicht; die Rede ist aber davon, daß die Teile einer flüssigen Materie ein natürliches, ihnen eigenes Bestreben zeigen die Gestalt anzunehmen, durch welche sie in das vollkommenste Gleichgewicht und damit in die größtmögliche Berührung unter sich selbst kommen (die Kugelgestalt)137, wovon die festen Körper nichts zeigen. Es ist also Eigenschaft der flüssigen Körper, als solcher, daß sie der vollkommensten Berührung unter sich fähig sind, und nur dadurch sind und werden sie flüssige Körper.

Daraus erklärt sich nun, wie man darauf gekommen ist, die Flüssigkeit der Körper durch den geringsten Grad des Zusammenhangs[342] ihrer Teilchen zu erklären. Die Leichtigkeit, den Zusammenhang zwischen den Teilchen einer flüssigen Materie aufzuheben, läßt sich nicht leugnen; aber diese Leichtigkeit selbst ist ein Beweis, wie sehr sie unter sich zusammenhangen. Denn weil jedes einzelne Teilchen von allen Seiten gleich angezogen wird, so kann es ohne Mühe verschoben, nie aber aus der Berührung gesetzt werden.

Aus dieser Leichtigkeit, den Zusammenhang flüssiger Teilchen unter sich zu verändern, erklärt sich ohne Zweifel die große Anziehung, die z.B. Glas gegen Wasser beweist (daher das in den Haarröhrchen unverhältnismäßige Steigen desselben, die vertiefte Oberfläche im nicht vollen Gefäße usw.). Auch hat Kant, der Erste, soviel ich weiß, der die gewöhnlichen Begriffe von Flüssigkeit aus dem Wege geschafft hat138, den Hauptsatz der Hydrodynamik: (»der Druck, der auf ein flüssiges Teilchen ausgeübt wird, pflanzt sich nach allen Richtungen mit gleicher Stärke fort«), aus jenem Begriff abgeleitet.

Damit fällt nun auch die falsche Vorstellungsart, als ob Flüssigkeiten ein Aggregat einzelner abgesonderter, kugelförmiger Körperchen seien (ein Nachlaß der älteren atomistischen Philosophie), von selbst. Denn das Wesen der Flüssigkeit besteht in der Kontinuität der Masse, die bei einem bloßen Aggregat unmöglich stattfinden kann.

Das neue System der Atomistik aber setzt ein großes Verdienst in die mechanische Erklärung, die es von den Eigenschaften expansibler Flüssigkeiten allein geben zu können vermeint. Die Elastizität derselben, behauptet Herr le Sage, lasse sich nur dadurch erklären, daß die Grundmassen (molecules) dieser Flüssigkeiten mit großer Schnelligkeit in verschiedenen Richtungen sich bewegen139. Mathematisch läßt sich wirklich Elastizität als die Beweglichkeit eines ruhenden Körpers in entgegengesetzten Richtungen erklären, und die gewöhnliche Erklärung der Elastizität (»die Fähigkeit eines Körpers, seine durch Druck von außen veränderte Größe oder Gestalt wieder anzunehmen, sobald der Druck nachläßt«) kommt ganz auf jene[343] zurück. Allein Herr le Sage wendet jenen Begriff physisch an und ist daher bemüht, die Ursachen einer solchen Bewegung in der Beschaffenheit der Grundteilchen der Flüssigkeiten aufzusuchen.

Ich erinnere nur, daß, obgleich bei Herrn Prevost bloß von der Elastizität der Flüssigkeiten die Rede ist, Herr le Sage doch wahrscheinlich alle Elastizität, auch die der festen Körper (die er ohne Zweifel als abgeleitete betrachtet), auf dieselben Ursachen zurückführt.

Schon Daniel Bernoulli in seiner Preisschrift über die Natur und die Eigenschaften des Magnets140 hatte die Expansibilität der Luft aus einer inneren Bewegung ihrer Grundteilchen erklärt. Er läßt die Elastizität der Luft »durch eine viel feinere Flüssigkeit, als die Luft selbst ist, unterhalten werden«. Daher glaubt er das Gesetz ableiten zu können, daß die Elastizität der Luft im umgekehrten Verhältnis des Raumes wächst, in dem sie ausgedehnt ist. Ferner diese innere Bewegung, glaubt er, sei die eigentliche Ursache der Flüssigkeit (die gewöhnliche Physik setzt das Wesen, den Charakter der Flüssigkeit in die Beweglichkeit einzelner Teilchen innerhalb einer [ruhenden] flüssigen Masse), und auf jene innere Bewegung gründet er mehrere hydrodynamische Prinzipien. Als Prinzip der inneren Bewegung endlich vermutete Bernoulli die Wärme. Herr Prevost fragt141, woher denn die Wärme diese ursprüngliche Bewegung habe? Ich fürchte, man werde ihm eine ähnliche Frage entgegenstellen.

Um nun eine innere Bewegung der Grundmassen einer elastischen Flüssigkeit überhaupt zu erklären, könnte man nach Herrn le Sage eine Ungleichheit der Stöße der schwermachenden Teilchen annehmen. Zwei entgegengesetzte Ströme, welche auf einen und denselben Körper in einem und demselben unteilbaren Augenblick stoßen, können nicht immer, streng genommen, einander gleich sein. Daraus also entspringt die unregelmäßige Bewegung oder Schwingung eines zweiten Fluidums, das Herr le Sage Äther nennt und welches er überhaupt erst[344] durch das primitive Fluidum (dessen Bewegung bis jetzt nicht erklärt ist) in Bewegung setzen läßt.

Allein diese Ungleichheit der Stöße ist doch eine zu unbestimmte Ursache, als daß sie allein zur Erklärung des Phänomens hinreichen sollte. Herr le Sage will eine Ursache, die den ersten Grundteilchen inhäriert, eine Ursache, die notwendig und zu jeder Frist die Bewegung produziert und reproduziert, welche alle durch die Erscheinungen der Expansibilität bestimmten Bedingungen erfüllt142.

Was anderes könnte nun diese Ursache sein, da die Materie ursprünglich völlig gleichartig ist, und da von einer bloß mechanischen Bewegung (durch Stoß) die Rede ist, als die äußere Form oder die Figur der Grundteilchen des Äthers?

Gesetzt, ein elementarischer Körper wäre ohne Konkavität, so könnte er, von allen Seiten gleich angestoßen, gar keine Bewegung haben. Ist er aber konkav, so wird er sich in der entgegengesetzten Richtung der Konkavität bewegen, da die schwermachenden Teilchen, welche diese treffen, stärker stoßen als ihre Antagonisten, welche die konvexe Fläche treffen. Dadurch haben also die Grundteilchen der elementarischen Flüssigkeit eine Quelle der Bewegung in sich selbst, die von Gesetzen der Schwere ganz unabhängig ist, obgleich sie durch das schwermachende Fluidum bewirkt wird.

Alle diese Grundteilchen zusammen haben ihr Summum von Geschwindigkeit, dem sie sich durch sukzessive Akzeleration annähern. Da sie ferner immer in der Richtung der Konkavität bewegt werden, ihre Konkavitäten aber nach verschiedenen Seiten gekehrt sein können, so wird dadurch Bewegung in entgegengesetzter Richtung entstehen. Diese Bewegung aber geschieht nach jeder Richtung mit derselben (endlichen) Geschwindigkeit, daher die gleiche Expansibilität nach allen Seiten.

Ferner, je kleiner die Grundteilchen, desto schneller die Bewegung (des Lichts und Feuers z.B. in Vergleichung mit der Bewegung der Luft), und je stärker die Bewegung, desto größer auch die Abstände eines Grundteilchens vom andern, also desto geringer ihre Dichtigkeit.[345]

So sehr man sich auch der neuen und sinnreichen Wendung, welche die uralte Voraussetzung der atomistischen Physik durch Herrn le Sage erhalten hat, freuen mag, so bleiben doch folgende Fragen unbeantwortet: vorerst, die schwermachenden Teilchen sind ein primitives Fluidum nach Herrn le Sage. Allein woher hat denn dieses die Eigenschaften einer elastischen Flüssigkeit erhalten?

Ferner, dieses primitive Fluidum besteht »aus elementarischen, sehr harten und undurchdringlichen Körperchen«. Flüssige Materien (wie das schwermachende Fluidum) sind also ein bloßes Aggregat fester Körper. Festigkeit ist der primitive Zustand der Materie; Flüssigkeit nur eine besondere Art der Bewegung fester Körperchen. Allein, wie die mechanische Physik gewöhnlich verfährt, verfährt sie auch hier, indem sie einem bloß mathematischen Begriffe sogleich auch physische Bedeutung gibt. Denn die Beweglichkeit eines ruhenden Körpers in entgegengesetzten Richtungen gibt zwar einen Begriff von Elastizität überhaupt, nicht aber von Elastizität expansibler Flüssigkeiten. Nun läßt sich aber nicht begreifen, wie durch Bewegung in entgegengesetzten Richtungen, man mag sie so schnell annehmen als man will, ein Aggregat fester Körper das Phänomen einer flüssigen Materie geben soll. Denn das Aggregat kann seiner Natur nach nichts anderes sein, als was die einzelnen Teile sind (ganz anders ist es mit einem Produkt aus verschiedenen Körpern).

Daß wir uns die elementarischen Körper so klein wie möglich vorstellen, tut nichts zur Sache. Groß oder klein, sie sind feste Körper. Ein Aggregat fester Körper aber kann nie ein Fluidum geben, schon aus dem einigen Grunde, weil zwischen festen Körpern Reibung stattfindet, die bei flüssigen (wenn anders Gesetze der Hydrodynamik und Hydrostatik nicht trügen) unmöglich ist.

Jene Bewegung in entgegengesetzten Richtungen erklärt also, wie auch Herr le Sage selbst zu sagen scheint, nur die Expansibilität elastischer Flüssigkeiten. Allein, damit ist ihre Flüssigkeit noch nicht erklärt, worauf man billig am begierigsten ist, weil es mit atomistischen Voraussetzungen äußerst schwer scheint, dieselbe überhaupt zu erklären. Dann müßte[346] sich die Erklärung auch auf die, gewöhnlich nicht so genannten, elastischen Flüssigkeiten erstrecken, was Herr le Sage nicht beabsichtigt zu haben scheint.

Was allen solchen mißlungenen Versuchen zugrunde liegt, ist eine gemeinschaftliche Täuschung, die wir schon oben aufgedeckt haben. Weil man z.B. die Expansibilität eines Fluidums in Gedanken von ihm selbst trennen kann, so leiht man ihm damit eine von seiner Expansibilität unabhängige Existenz. Allein es ist nur durch seine Expansibilität dieses bestimmte Fluidum, oder vielmehr es ist selbst nichts anderes als diese bestimmte Expansibilität der Materie. Ist das Fluidum etwas für sich Bestehendes, und ist ihm diese Expansibilität zufällig, dann mag man fragen, was ihm diese Expansibilität gegeben hat, nicht aber, wenn von der Expansibilität als allgemeiner Eigenschaft der Flüssigkeiten die Rede ist.

Wenn wir also in Ansehung der spezifischen Verschiedenheit der Materie auf die atomistische Erklärungsart völlig Verzicht tun müssen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als die dynamische Erklärungsart zu versuchen. Nun gibt uns aber die Dynamik nichts weiter, als den allgemeinen Begriff von einem Verhältnis der Grundkräfte überhaupt, und dieser allgemeine Begriff allein ist das Notwendige, was wir allen Vorstellungen von äußeren Dingen zugrunde legen.

Weil aber im Bewußtsein immer Notwendiges und Zufälliges vereinigt sein muß, müssen wir, um jenes Verhältnis der Grundkräfte selbst als das Notwendige vorstellen zu können, dasselbe in anderer Rücksicht als zufällig vorstellen, und um es als zufällig vorstellen zu können, müssen wir als möglich voraussetzen ein freies Spiel der beiden Grundkräfte. Aber die Materie ist trag, also kann jenes Spiel der Grundkräfte nur durch äußere Ursachen bewirkt werden. Auch soll jenes Spiel in der Natur, also nach Naturgesetzen stattfinden.

Ein freies Spiel jener Kräfte erfolgt nur dadurch, daß wechselseitig attraktive und repulsive Kraft das Übergewicht erhält. Dies muß aber nach einer Regel geschehen. Also müssen wir Ursachen voraussetzen, die regelmäßig jenen Wechsel bewirken.

Diese Ursachen können nicht bloß gedacht, – nicht bloße[347] Begriffe sein, wie etwa die von anziehenden und zurückstoßenden Kräften.

Sie müssen sogar in bezug auf diese beiden Grundkräfte zufällig sein, d.h. sie müssen nicht zu den Bedingungen der Möglichkeit der Materie selbst gehören; Materie könnte auch ohne sie wirklich sein.

Sie können eben deswegen schlechterdings nicht a priori erkannt oder abgeleitet werden. Sie sind schlechterdings nur erfahrungsmäßig erkennbar.

Sie müssen sich bloß durch die Sinne ankündigen. Objektiv an sich betrachtet, können sie also auch etwas ganz anderes sein, als was sie subjektiv – nach ihrer Wirkung aufs Gefühl – zu sein scheinen.

Sie sind eben deswegen ihrer Natur nach qualitativ, und über sie findet gar keine andere, als eine bloß physikalische Untersuchung statt.

Diese Ursachen müssen sich beziehen auf attraktive sowohl als repulsive Kraft, denn sie sollen den freien Wechsel dieser Kräfte bewirken.

Da aber anziehende und zurückstoßende Kräfte zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, so müssen jene Ursachen als in einer engeren Sphäre wirksam gedacht werden. Sie werden daher als Ursachen partieller Anziehungen und Zurückstoßungen gedacht werden.

Man muß insofern ihre Wirkungen betrachten können als Ausnahmen von den Gesetzen der allgemeinen Anziehung und Zurückstoßung. Sie werden also von Gesetzen der Schwere ganz unabhängig sein.

Jene Ursachen sind uns bloß durch ihre Qualitäten (in bezug auf Empfindung) vorstellbar. Sie werden also als Ursachen qualitativer Anziehungen und Zurückstoßungen gedacht werden. Die Wissenschaft nun, welche die Qualität der Materie zum Gegenstand hat, heißt Chemie. Also werden jene Ursachen Prinzipien der Chemie sein, und der allgemeinen Dynamik, als Wissenschaft, die in sich selbst notwendig ist, steht, unter dem Namen der Chemie, die spezielle Dynamik gegenüber, die in ihren Prinzipien schlechthin zufällig ist.

135

Kant (a. a. O. S. 89) [2. ed. Hart. IV, 421; ed. Kirchm. VII, 244.] erklärt Zusammenhang durch Anziehung, insofern sie bloß (ausschließend) als in der Berührung wirksam gedacht wird. – Diese Erklärung aber ist nichts mehr und nichts weniger, als ein sehr präziser Ausdruck des Phänomens.

136

Vergl. Kant a. a. O. S. 88. [2. ed. Hart. IV, 420; ed. Kirchm. VII, 244.]

137

Vorausgesetzt, daß keine Wahlanziehung zwischen dem Wasser und einem andern Körper stattfinde. Denn diese stört die natürliche Anziehung der flüssigen Teilchen untereinander.

138

A. a. O. S. 88. [2. ed. Hart. IV, 420; ed. Kirchm. VII, 244.]

139

Man sehe Herrn Prevost a. a. O. § 34.

140

Vom Jahre 1746.

141

A. a. O. § 35.

142

A. a. O. § 37, 38.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 337-348.
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